Teil 2 der Serie: Selbstbestimmung in der TGI
In Teil 1 dieser Serie haben wir über Kooperationssignale wie Startbutton- und Abbruchsignale gesprochen – als Möglichkeit, Tieren in der tiergestützten Intervention (TGI) echte Mitbestimmung zu ermöglichen.
Doch diese Signale allein reichen nicht aus. Um Freiwilligkeit und Wohlbefinden unserer tierischen Partner*innen wirklich einschätzen zu können, müssen wir lernen, ihre nonverbale Kommunikation systematisch zu beobachten und zu interpretieren.
Dieser Beitrag zeigt, wie sich Freiwilligkeit im Verhalten widerspiegeln kann – und wie wir sie über Beobachtungsparameter erfassen und dokumentieren können.
Freiwilligkeit – mehr als Stressfreiheit
In der professionellen TGI ist es längst nicht mehr ausreichend, das bloße Fehlen von Stress- oder Problemverhalten als Zeichen für Wohlbefinden zu deuten. Ein Tier, das „funktioniert“, kann dennoch innerlich gestresst oder überfordertsein.
Freiwilligkeit ist ein aktives Geschehen: Das Tier zeigt durch Initiative, soziale Nähe oder wiederholte Beteiligung, dass es nicht nur „mitmacht“, sondern die Interaktion tatsächlich möchte.
Diesen Ansatz findet man z. B. auch in modernen Tierwohlkonzepten wie dem „Five Domains Model“ (Mellor et al.) oder dem Human-Animal Interaction Assessment Tool (HAIAT). Sie alle betonen die Relevanz von positiven Indikatoren: Freude, Neugier, Engagement.
Woran erkennt man Freiwilligkeit? – Beobachtungsparameter
Im Folgenden stellen wir zentrale Verhaltensindikatoren vor, die in der TGI Hinweise auf Freiwilligkeit und Wohlbefinden geben können.
1. Körperliche Entspannung
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Lockeres, fließendes Bewegungsmuster
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Entspannte Gesichtsmuskulatur (z. B. „weiches Maul“, ruhige Ohren)
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Dehnbewegungen, kurzes Schütteln, Blinzeln
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Ruhige Atmung
Diese Signale zeigen, dass das Tier körperlich gelöst ist – eine wichtige Voraussetzung für freiwillige Mitwirkung.
2. Soziale Kontaktaufnahme
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Eigenständiges Herantreten an Bezugsperson oder Klient*in
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Blickkontakt ohne Aufforderung
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Körpernähe suchen, z. B. anlehnen, Target selbstständig anbieten
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Freude am sozialen Spiel (z. B. Aufforderung durch Spielbogen)
Soziale Interaktion aus Eigeninitiative ist ein starker Hinweis auf Motivation und Wohlbefinden.
3. Stabilität und Wiederholung
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Wiederholte Teilnahme an vergleichbaren Situationen über mehrere Termine hinweg
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Keine Vermeidung der Trainingsumgebung oder eingesetzten Materialien
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Stabile Motivation über die Dauer der Einheit
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Kein „Zwangsverhalten“ wie eingefrorene Körpersprache oder ständiges Übersprungsverhalten
Ein Tier, das regelmäßig und freiwillig in Kontakt tritt, zeigt langfristig Interesse – ein wichtiges Kriterium für die Qualität der Beziehung.
Stress- und Meideverhalten erkennen
Freiwilligkeit zeigt sich nicht nur im positiven Verhalten – sondern auch durch das Ausbleiben von Meide- und Stressreaktionen. Umso wichtiger ist es, auch diese sicher zu erkennen.
Typische Stress- oder Überforderungssignale sind z. B.:
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Gähnen, Hecheln außerhalb von Hitze/Bewegung
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Züngeln, übermäßiges Lecken
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Blick abwenden, sich klein machen, Einfrieren
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Zittern, Verstecken, Fluchtversuche
Wichtig: Nicht jedes einzelne Signal bedeutet sofort Überforderung. Entscheidend ist die Kontextbetrachtung – also das Verhalten im Zusammenspiel mit Situation, Intensität und Wiederholung.
Beobachtung & Dokumentation als professionelles Handwerk
Die Fähigkeit zur systematischen Beobachtung ist eine zentrale Kompetenz in der TGI. Sie ermöglicht eine fundierte Einschätzung des Tierverhaltens und eine kontinuierliche Qualitätssicherung.
Praktische Tools:
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Checklisten mit Positiv- und Negativindikatoren
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Videoanalyse zur Reflexion mit Kolleg*innen
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Tagesformbögen mit Kriterien zu Motivation, Körpersprache, Interaktionsfreude
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Team-Reflexionen zur Vermeidung von blinden Flecken („Bias“)
Die Dokumentation schafft Transparenz – und ist eine wertvolle Grundlage für Training, Supervision und ethische Entscheidungen.
Fazit
Freiwilligkeit ist kein vages Gefühl – sie ist sichtbar und messbar, wenn wir die richtigen Beobachtungskriterien kennen und ernst nehmen.
Nicht einzelne Verhaltensweisen sind ausschlaggebend, sondern die Muster über Zeit: Zeigt das Tier Initiative, Stabilität, Freude – oder Rückzug, Stress, Meideverhalten?
Nur wenn wir diese Sprache lesen lernen, können wir eine tiergestützte Intervention gestalten, in der unsere Tiere nicht nur funktionieren – sondern aktiv mitgestalten.
Ausblick auf Teil 3:
Im nächsten Beitrag widmen wir uns der Frage:
Wie können wir im Training echte Wahlmöglichkeiten schaffen – und was bedeutet das für den Aufbau von Übungen und Interaktionsformen?