Ein neuer Blick auf die Vielfalt des Menschseins
Neurodivergenz – etwa in Form von Autismus, ADHS oder Tourette – ist kein Defizit. Es ist eine andere Art, die Welt wahrzunehmen und zu verarbeiten. Diese Erkenntnis steht im Zentrum der neuroaffirmativen Haltung, wie sie unter anderem von Tony Attwood und Gaynor Garnett vertreten wird. Sie rufen dazu auf, neurodivergente Menschen nicht zu „normalisieren“, sondern sie in ihrer Vielfalt zu unterstützen – mit Respekt, Verständnis und echtem Interesse.
In der tiergestützten Intervention eröffnet dieser Ansatz neue Wege. Tiere bieten einen urteilsfreien Raum, der neurodivergente Menschen dort abholt, wo sie stehen – ohne Druck, Erwartungen oder soziale Masken.
Was bedeutet „neuroaffirmativ“?
Neuroaffirmativ zu arbeiten bedeutet, neurodivergente Menschen nicht als „zu therapierende Störung“ zu sehen, sondern als Menschen mit einer anderen – und völlig legitimen – neurologischen Konstitution. Das heißt:
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Anerkennung statt Anpassung
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Empowerment statt Erziehung
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Beziehung auf Augenhöhe statt Verhaltenstraining
Diese Haltung rückt Akzeptanz und Selbstbestimmung in den Fokus. Sie verändert, wie wir kommunizieren, begleiten – und welche Räume wir schaffen.
Warum tiergestützte Intervention?
Tiere bringen etwas mit, das Menschen oft (unbewusst) verlernt haben: Sie begegnen bedingungslos. Sie erwarten keine neurotypischen Verhaltensweisen. Ein Tier interessiert sich nicht dafür, ob jemand beispielsweise Augenkontakt hält oder "normal" spricht. Es spürt Emotionen, Präsenz, Körpersprache – und reagiert darauf authentisch.
Für viele neurodivergente Menschen ist diese Form der Beziehung eine große Erleichterung:
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keine Maskierung
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kein Smalltalk
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kein „falsch sein“
Stattdessen: Interaktion auf sensorischer, nonverbaler und emotionaler Ebene – oft sehr klar, ehrlich und berührend.
Wie sieht neuroaffirmative tiergestützte Arbeit konkret aus?
Die Verbindung aus neuroaffirmativem Ansatz und tiergestützter Intervention verändert die Praxis auf mehreren Ebenen:
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Beziehungsaufbau statt Verhaltenstraining
Es geht nicht um „soziale Übungen“, sondern um echte, freiwillige Beziehung – mit dem Tier und mit der Begleitung. -
Reizarmer, sicherer Rahmen
Strukturen, Rückzugsmöglichkeiten, klare Abläufe und sensorische Bedürfnisse werden berücksichtigt – ohne zu pathologisieren. -
Selbstbestimmung & Consent
Der Mensch darf wählen: Nähe oder Distanz, Interaktion oder Ruhe. Und auch das Tier wird nicht übergangen. -
Sprachsensibilität & Anti-Ableismus
Begriffe wie „funktionieren“, „auffällig“ oder „normal“ werden bewusst reflektiert und ersetzt durch respektvolle Sprache.
Fazit: Neuroaffirmativ ist nicht nett – es ist notwendig
Neuroaffirmative tiergestützte Intervention ist mehr als ein Trend. Sie ist ein Ausdruck echter Inklusion und respektvoller Beziehung. Sie verändert nicht den Menschen – sie verändert die Rahmenbedingungen.
Denn jeder Mensch verdient einen Platz, an dem er einfach nur sein darf.