Selbstbestimmung und Wahlmöglichkeiten in der tiergestützten Intervention
1. Warum diese Frage so wichtig ist
In der tiergestützten Intervention (TGI) lese ich oft ganz selbstverständlich von „unserem Co-Therapeuten“ oder „unserem Therapietier“.
Wir betonen die enge Beziehung und die Bedeutung des Tieres für die Arbeit mit unseren Klient:innen.
Doch zu selten stellen wir uns die Frage: Würde dieses Tier – hier und heute – tatsächlich freiwillig an der Intervention teilnehmen, wenn es die Wahl
hätte?
Diese Frage ist nicht nur eine ethische Spielerei, sondern berührt den Kern unserer Arbeit:
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Den Anspruch, Tierschutz nicht nur gesetzlich, sondern ethisch ernst zu nehmen
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Den Respekt vor dem Tier als eigenständigem Lebewesen mit eigenen Bedürfnissen
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Die Verantwortung, die psychische und physische Gesundheit unseres tierischen Partners zu sichern
2. Motivation aus Sicht des Tieres
Tiere handeln nicht aus einem „Pflichtgefühl“ oder aus moralischer Verantwortung.
Ihre Motivation basiert auf:
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Positiven Erfahrungen (Lernen durch positive Verstärkung)
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Sicherheit (keine Angst, kein Stress, keine Bedrohung)
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Sozialer Bindung (Vertrauen, Beziehung, gemeinsamer Spaß)
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Wahlmöglichkeiten (das Erleben von Kontrolle über die eigene Situation)
Fehlt einer dieser Faktoren, kann die Bereitschaft zur Mitarbeit deutlich sinken – manchmal unmerklich, manchmal sehr offensichtlich.
3. Echte Wahlmöglichkeiten in der Praxis
Damit ein Tier sich wirklich entscheiden kann, braucht es mehr als „die Option, theoretisch wegzugehen“.
Es braucht Strukturen, die Selbstbestimmung nicht nur ermöglichen, sondern fördern:
a) Start-Buttons
Signale, die vom Tier ausgehen und klar zeigen: „Ich bin bereit“.
Beispiele: gezieltes Hinwenden, in Position gehen, einen bestimmten Gegenstand berühren.
b) Abbruchsignale
Definierte Möglichkeiten, eine Interaktion zu beenden – und zwar ohne negative Konsequenzen.
Das kann ein bewusst trainiertes Signal sein oder ein natürliches Körpersprache-Element wie Wegdrehen oder Distanz vergrößern.
c) Rückzugsorte
Ein fester, ungestörter Platz, zu dem das Tier jederzeit Zugang hat – ohne, dass jemand „ruft“ oder es zurückholt.
d) Lese-Kompetenz bei Fachkräften
Das Erkennen feiner Stresssignale (Blickabwendung, Muskelspannung, Atmung) und die Fähigkeit, sofort angemessen zu reagieren.
4. Selbstbestimmung ist unbequem
Die größte Herausforderung für uns als Fachkräfte ist nicht, solche Strukturen zu schaffen – sondern, mit den Konsequenzen zu leben.
Echte Selbstbestimmung bedeutet:
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Manchmal wird das Tier nicht teilnehmen wollen
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Manchmal wird eine geplante Einheit abgebrochen
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Manchmal wird die Arbeit weniger „effizient“ im klassischen Sinn
Das kann organisatorisch, finanziell und emotional herausfordernd sein – besonders, wenn Klient:innen, Angehörige oder Institutionen feste Erwartungen haben.
Doch genau hier zeigt sich, ob wir Selbstbestimmung wirklich ernst meinen – oder nur solange, wie sie uns nicht im Weg steht.
5. Warum es sich lohnt
Ein Tier, das regelmäßig erlebt, dass sein „Nein“ respektiert wird, entwickelt mehr Vertrauen, zeigt häufiger ein „Ja“ und bleibt langfristig gesund – körperlich wie psychisch.
Das steigert nicht nur die Qualität der Intervention, sondern auch die Authentizität der Beziehung zwischen Mensch und Tier.
6. Reflexionsfragen für Fachkräfte
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Hat mein Tier in jeder Sitzung eine echte Wahl, ob es teilnehmen möchte?
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Erkenne ich die feinen Signale, die auf Überforderung oder Stress hinweisen?
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Gibt es einen klar definierten Pausen- und Rückzugsbereich?
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Kann mein Tier auch „Nein“ sagen, ohne dass ich frustriert bin oder es Konsequenzen hat?
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Bin ich bereit, meine Pläne spontan anzupassen, wenn mein Tier nicht möchte?
Fazit:
Die Frage, ob unser Tier sich wirklich entscheiden würde, heute mitzuarbeiten, ist unbequem – aber notwendig.
Sie zwingt uns, unsere Praxis zu hinterfragen und die Selbstbestimmung des Tieres konsequent mitzudenken.
Denn wahre Partnerschaft in der TGI bedeutet, dass das „Co“ in „Co-Therapeut“ nicht nur ein Titel ist, sondern gelebte Realität.